„Warum müssen wir denn immer den Zug nehmen, Mama?“
„Lisa, das erkläre ich dir doch jedes Mal wieder. Es ist billiger, mit dem Zug zu fahren. Von dem Geld, das wir sparen, können wir uns eine zusätzliche Nacht im Hotel leisten.“
„Aber wir sind doch zwei Nächte im Zug, Mama…“
Für ihre sieben Jahre war die kleine Lisa ganz schön wiff. Um ihr zu erklären, dass fliegen schädlicher für die Umwelt wäre, war sie dann aber doch noch etwas zu klein, weshalb ihre Mutter die Diskussion mit einem kurzen „Wir können auch früher nach Hause fahren“ beendete.
Ein Gastbeitrag von Constantin Klebermaß
„So, und jetzt ab ins Bett, Lisa.“ Lisa folgte gehorsam, kletterte die Leiter im Schlafabteil nach oben, hielt abrupt inne und rief: „Mami, Mami! Wo ist mein ÖBBär?“ Ohne ihren Teddybären brachte sie im Zug kein Auge zu. Seit Jahren begleitete er sie auf allen Reisen und beschützte sie vor den bösen Geräuschen des fahrenden Zuges. Ganz geheuer war es ihr trotzdem nicht.
Ihre Eltern hatten an alles gedacht und den ÖBBär im Koffer ganz oben eingepackt.
Im Handumdrehen war er herausgeholt und Lisa in die Hand gedrückt.
„Schlaf gut, meine Liebe!“, flüsterte ihre Mutter noch, bevor sie das Licht ausschaltete. Es sollte eine ruhige Nacht werden.
Die Sonne schien bereits durchs Fenster als sie am nächsten Morgen mit den Worten: „Entschuldigen Sie, wir erreichen gleich Rom, unseren Endbahnhof. Wollen Sie noch frühstücken?“, vom Zugbegleiter geweckt wurden. Panisch sprang die ganze Familie aus dem Bett – sie hatten doch glatt verschlafen. Während Lisa eine Marmeladesemmel verdrückte, stopften ihre Eltern hektisch alles in die Koffer. Sie wollten ihren Anschluss keinesfalls verpassen. Vollbepackt von oben bis unten verließ die Familie den Zug und rannte zum anderen Gleis.
Was keiner von ihnen bemerkte – sie waren nicht vollständig. Lisas ÖBBär saß noch immer neben dem Kopfkissen im Schlafabteil. Doch das Fehlen würden sie erst Tage später bemerken.
Während Lisa auf der Rückfahrt kein Auge zubrachte, war ihr geliebter Beschützer ganz wo anders. Mit dem Nachtzug ging es für ihn durch Deutschland und sogar bis Brüssel. Auch wenn er meist in guter Gesellschaft war, vermisste er Lisa doch ein wenig. Jedes Mal, wenn er nach Rom fuhr, hoffte er darauf sie zu finden. Doch Lisa stieg nie ein – sie war längst wieder zuhause.
Tage vergingen. Wochen vergingen. Monate vergingen und der ÖBBär fand langsam Gefallen an seinem neuen Leben. Oft wurde er von fremden Kindern, die er gar nicht kannte, ins Herz geschlossen und nahm auch ihnen die Angst vor den unbekannten Geräuschen – so wie er es immer bei Lisa getan hatte.
Ein Jahr verging bis zu jenem schicksalhaften Tag:
„Warum müssen wir denn immer den Zug nehmen, Mama?“
„Lisa, das erkläre ich dir jedes Jahr aufs Neue. Es ist billiger, mit dem Zug zu fahren.“
„Aber ich hab dir doch gesagt, dass ich ohne ÖBBär nicht schlafen kann!“ „Ja, Schatz. Deshalb haben wir ja auch deinen anderen Bären eingepackt.“ „Aber das ist nicht der ÖBBär!“, erwiderte Lisa trotzig. „Nimm jetzt den Bären oder schlaf ohne!“, antworte ihre Mutter entnervt. Im nächsten Moment rannte Lisa, hochrot im Gesicht, aus dem kleinen Abteil. Dass ihre Mutter ihr „Lisa, bleib da!“, hinterherrief, hörte sie nicht.
“Wie konnte ihre Mutter nur so kaltherzig sein? Sie hatte doch auf den ÖBBär vergessen!”
Vor lauter Wut achtete Lisa nicht darauf, wohin sie rannte. Einem kleinen Kind, das weinend am Boden saß, konnte sie gerade noch ausweichen. Wenige Meter weiter stieß sie aber mit dem Zugbegleiter zusammen. „Junge Dame, nicht so hastig!“ Doch als er sich Lisas bitterbösen Blick einfing, machte er Platz und ging an ihr vorbei – direkt auf das weinende Kind zu.
„Warum weinst du denn, Kleiner?“ Die Antwort war ein lautes Schluchzen. Dann zog der Zugbegleiter einen kleinen Teddybären hervor und hielt ihn dem Kind hin. „Schau einmal. Ich habe hier unseren kleinsten Mitarbeiter. Möchtest du ihn dir für heute Nacht ausborgen?“ Das Kind schaute kurz auf, schluchzte erneut, nickte dann aber und nahm den Bären an sich.
Lisa, die die Szene schweigend beobachtet hatte, erkannte den Bären sofort wieder. Es war ihr geliebter ÖBBär! Ihre Wut war plötzlich verflogen; stattdessen rief sie freudestrahlend: „Sie haben meinen ÖBBär gefunden!“ Doch der Zugbegleiter schaute sie nur verdattert an. „Kleine, ich glaube du verwechselst da etwas!“ „Nein! Ich habe meinen ÖBBär letztes Jahr im Zug vergessen. Das ist er!“
Der Zugbegleiter überlegte kurz und fragte dann freundlich: „Schau einmal. Der kleine Junge hier ist leider sehr traurig. Und ich glaube aktuell kann ihm da nur dein Teddybär helfen. Er fährt seit Monaten mit uns herum und tröstet andere Kinder. Was meinst du – borgst du ihn uns noch für eine Nacht und morgen Früh nimmst du ihn mit?“
Lisa zögerte. Aber als der Zugbegleiter ergänzte, dass ihr Teddy ja ganz in der Nähe wäre und sie auch so beschützen würde, willigte sie ein.
Im Bett liegend, dachte Lisa an ihren ÖBBär, der ein paar Abteile weiter gerade ein anderes Kind beschützte. Die Vorstellung erfüllte sie mit Stolz. Ehe sie noch weiterdenken konnte, war sie bereits eingeschlafen – und erwachte erst wieder am nächsten Morgen.
Zusammen mit dem Frühstück brachte ihr der Zugbegleiter auch ihren ÖBBär. „Ich habe es dir ja versprochen!“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und drückte ihren ÖBBär ganz fest an sich. Dann vergoss sie, im Gedanken an ihre Entscheidung, eine kleine Träne.
Während ihre Eltern bereits das Gepäck ausluden, ging Lisa noch einmal zum Zugbegleiter. „Entschuldigen Sie!“ „Ja bitte, Kleine. Brauchst du noch etwas?“
„Ich möchte Ihnen nur etwas geben. Heute Nacht habe ich gemerkt, dass ich ihn nicht mehr brauche, um im Zug schlafen zu können. Ich will aber nicht, dass andere Kinder weinen müssen.“ Mit diesen Worten drückte sie ihren ÖBBär dem völlig perplexen Zugbegleiter in die Hand. „Passen Sie gut auf ihn auf!“
Dann verließ Lisa den Zug. Am Bahnsteig drehte sie sich noch einmal um und winkte. Und ihr ÖBBär winkte zurück.
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